Vom Ich zum Wir

Anmerkungen zum politischen Charakter sozialistischer Utopien

Thomas Gehrig

Ein Ruf, ein Traum, ein starker Wille: Gebt mir ein Leitbild. Laibach

Der express (Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit) plant seit Längerem, eine Sozialismus-Debatte zu führen. Einen Auftakt machte nun AK System Change im express 9/2023 mit dem Text „Her mit den Konzepten für System Change!“[1] Formuliert wird darin eine „Einladung zu einer neuen Sozialismus-Diskussion“. Der AK System Change ist ein neu gegründeter Arbeitskreis, der auch mit Teilen der express-Redaktion diskutiert. Die dort anklingende sozialistische Perspektive veranlasste den Autor dieser Zeilen zu dem folgenden kritischen Kommentar.[2]

Dieser Text nimmt die »Einladung zu einer neuen Sozialismus-Diskussion« des AK System Change aus dem express 9/2023 an.

Der AK System Change versucht nichts weniger als ein »Gesamtkonzept des System Change« zu entwerfen. Die Grenzen ihres sozialistischen Denkens zeigen sich schon bald. Die rechte soziale und politische Transformation trägt nicht einfach nur »das falsche Vorzeichen«, wie im Text behauptet. Es ist ein politizistisches Denken, das glaubt, Vorzeichen der Politik seien einfach herumzudrehen. Als sozialistisch erscheinen im Text »Arbeitszeitrechnung und Planwirtschaft«, »digital geplante […] Ökonomie« und »Commons«. Das trifft in seiner Beschränktheit in der Tat auf das Etikett ›sozialistisch‹ zu.

Der Artikel arbeitet durchgehend mit einer Inszenierung und baut darauf auf: ›die‹ Linke. ›Die‹ Linke gibt es nicht und es gab sie nie. Insofern ist es eine banale Erkenntnis, gar ein Pleonasmus, von einer »gespaltenen« Linken zu reden. Als sozialistische politische Perspektive, die immer wieder hinter solchen Aussagen steckt, ergibt sich: die »Fragmentierung« soll überwunden werden. Immer wieder erscheint so die sozialistische Idee, oppositionelle Gruppen unter einer Fahne zusammenzuführen für den Sturm aufs Winterpalais oder die Hegemonie.

Diese langweilige politische Vorstellung paart sich hier mit der der Utopie. Es gehe darum, »eine gesellschaftliche Utopie größeren Formats auszumalen«, »die utopische Kraft« soll auf-genommen werden. Utopie erscheint als »eine kollektive Imagination, die viele Menschen mobilisieren und orientieren kann«. Utopie figuriert hier zu Recht als Instrument der Politik. Gesucht wird die Fahne, hinter der sich alle versammeln. Die Kritik an utopischen Entwürfen von Marx bis Adorno wird ignoriert, deren antiemanzipatorischer Impetus verkannt. Die Problematik utopischer Entwürfe wird die im Text formulierten Vorstellungen jedoch im Text selbst noch einholen.

Für die sozialistische Fahne, die Utopie, soll nun ein Kriterienkatalog aufgestellt werden. »Was fehlt, ist ein Gerüst von Kriterien, die als Orientierungsmarken für Konzepte postkapitalistischer Gesellschaften funktionieren können«, ein »Kriterien-Gerüst, das Bewegungen als Orientierungsmarke dient«. Von diesem Gerüst wird erwartet, dass es die Fragmentierung überwinden kann. Die Kriterien gelten als »Voraussetzung für eine Einordnung substantieller postkapitalistischer Konzepte«. Sie sollen »Orientierungsmaßstäbe bieten«. Es scheint, dass offenbar genau das der Linken gefehlt hat: eine Instanz, die Orientierung gibt. Die leninistische Linke dachte immer schon so, dass aus (ihrem) Wissen wirksame Praxis abzuleiten sei. Es soll Geschichte gemacht werden. Die Existenzberechtigung der Linken hängt dabei an ihrer Fähigkeit, auf die ›Massen‹ zu wirken und sie hinter ihrer Fahne zu vereinigen. Es sind – wie auch immer relativierte – Avantgarde-Konzepte. Sie sind deshalb so gefährlich, weil mit der Autonomie jener anvisierten ›Massen‹ die Gefolgschaft voraussehbar scheitert und dann solchen Konzepten nur noch Enttäuschung und der in diesen Avantgarde-Konzepten bereits angelegte Autoritarismus bleibt.

Im Text werden »drei markante Eckpunkte konkreter Utopie« herausgearbeitet. Mit Eck-punkten sind wohl Faktoren gemeint, die im himmlischen Jerusalem der Utopie überwunden sein müssen: erstens »die ökonomischen Existenzbedrohungen« (»Dysfunktionen«, »Krisen«), zweitens die »Zwänge[..] im Alltag« (»Arbeit und Schulden«, »Polizei und Ordnungsmaßnahmen«, »Wohnen«, »Sexualität« etc.) und drittens »soziale[..], kulturelle[..], politische[..] Missachtungen und Ausschlüsse[..]« (»Ethnie«, »Klasse, Geschlecht« etc.). Einige »Etagen« des Kriterien-Gerüsts werden nun genauer bestimmt: Es beinhaltet zuerst die »Diagnose der existierenden Gesellschaften«. »Aus diesen Diagnosen und aus der Geschichte konkreter Utopien resultieren wichtige regulative Ideen oder grundlegende Wertorientierungen«. Als solche orientierenden Werte werden genannt: »gelingende Lebensweisen für alle, kooperative Güterproduktion, nachhaltige Natur- und Technikverhältnisse«. Das Konzept regulativer Ideen zur Verwirklichung des gesellschaftlich Guten findet sich bereits bei Kant und ist dort Ausdruck seiner zutiefst bürgerlichen Gesellschaftsvorstellung. Die aufgezählten ›grund-legenden Wertorientierungen‹ erweisen sich bei nur etwas genauerer Betrachtung als inhaltlich weitgehend unbestimmt. Um es deutlich zu sagen: Aus bestimmter Perspektive gibt es das alles schon! Es sind ebenso nur »Wert-Phrasen« wie jene »heutigen«, von denen sich der Text abzugrenzen versucht.

Auf die Wertgrundlage folgt »die Etage der breiten Grundlagen postkapitalistischer Gesellschaft« als »Kontrast zu dem heutigen institutionellen Sockel«, also die Erfindung neuer Institutionen. Daran »schließt sich die Ebene der politischen Wege« an. Nachdem die Werte geklärt, die neuen Institutionen entworfen sind, fragt sich, wie dort politisch hinzukommen ist. Gesucht werden »Strategien für systemische Transformation«, »strategische Korridore und mögliche Kipppunkte von Transformation«, also ein Schlachtplan. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass der Plan leider oft der erste ist, der in einer Schlacht fällt.

Das erscheint auch im Text als Problem. Das soeben als Lösung präsentierte Kriterien-Gerüst soll selbst nur »experimentellen Charakter« haben, soll sich verändern. Um diese Veränderungen wiederum einschätzen zu können, bedürfte es allerdings eines weiteren Kriterien-Gerüsts (und so fort). Orientierung löst sich in der Unmöglichkeit der Bestimmung dieser auf.

An dieser Stelle im Text fällt auch auf und wird beklagt, dass über »die groben Fundamente postkapitalistischer Gesellschaft hinaus […] ein ganzes Spektrum von Strittigkeiten [sic!] emanzipatorischer Bewegungen« existiert. Das Problem ist, dass selbst die groben Fundamente strittig sind! Im Kontrast wirken Differenzen innerhalb der Bewegungen allerdings eher emanzipatorisch als von außen der Bewegung vorgegebene ›Orientierungsmarken‹, auch wenn ganz pädagogisch zugestanden wird, dass diese, wohl bis auf ›die groben Fundamente‹, noch revidierbar seien.

Den utopischen Konzepten werden also Grenzen attestiert. Sie müssen offenbar »immer Revisionen unterliegen«, sie dürfen »keine simple Schablone, Handlungsdirektive für emanzipatorische Bewegungen« sein. Also werden komplizierte Schablonen gesucht, kompliziertere als die im Text so schablonenhaft präsentierten? Und sie sollen revidiert werden können. Aber nach welchen Kriterien? Der Erfahrung? Diese Erfahrung wiederum arbeitet mit welchen Kriterien für Sozialismus? Gesucht wird ein Modell, das »die notwendige Offenheit oder Vagheit von Konzepten ohne Orientierungs- und Plausibilitäts-Verlust« liefert. Was bleibt, ist ein Breittreten des alten politischen Dilemmas (und damit alles andere als eine ›neue Sozialismus-Diskussion‹): programmatisch Orientierung vorgeben, die vage genug ist, um politisch zu funktionieren.

Dieser Text erschien im express 10/2023

Der AK System Change hat inzwischen in seiner Replik „Schlechte Stimmung für Sozialismus?“ in express 11/2023 dem Schreiber vorgeworfen, den Text nicht verstehen zu wollen.[3] Es gehe dem AK System Change „nicht darum, ‚oppositionelle Gruppen unter einer Fahne zusammenzuführen'“. Stattdessen gehe es um „einen gemeinsamen Schirm für Grundeinstellungen zur weitreichenden Gesellschaftstransformation in emanzipativem Geiste“. Nicht verstehen bedeute auch, die Ausführungen des AK „als Anmaßung von Plänen über eine andere Gesellschaft“ anzusehen. Dies weist der AK zurück. Stattdessen sieht der Autor Harald Rein nun das Defizit der aktuellen Debatte darin zu sagen, „wie eine andere Gesellschaft gestaltet werden soll“, „eine ‚Gesellschaft der Gleichen'“. Es gehe um das, „was linke Gruppen sich an substantiellen Alternativen vorstellen können“, um „Kriterien einer alternativen Daseinsvorsorge im Sozialismuskonzept“ und darum, welche „stark umgebaute Finanz¬- und Sozialordnung“ eingeführt werden müsse. Das Ganze soll nicht avantgardistisch vorgegeben, sondern im herrschaftsfreien Diskurs ausgehandelt werden. Aber welchen Stellenwert hat das Ergebnis eines solchen Aushandlungsprozesses? Welche Funktion soll einem dann ausgehandelten „Kriteriengerüst“ zukommen, über das „Ansätze eines sozialistischen Konzeptes“ identifiziert werden, um „Sozialismus […] mit überzeugenderen Vorstellungen“ zu füllen? Bleibt es unverbindlich oder wird es dann doch zur Vorgabe? Bestenfalls bleibt hier als emanzipatorisches Moment ein Diskussionsprozess, an dessen Ende klar wird, dass Kriterien für eine andere Gesellschaft abstrakt schon lange vorliegen und es der Konkretion nur als ständig neu zu formulierender, situativ spezifischer, negativer Wendung gegen die herrschende bedarf.


[1] AK System Change (2023): Her mit den Konzepten für System Change! Einladung zu einer neuen Sozialismus-Diskussion. In: express 9/2023.

[2] Thomas Gehrig (2023): Vom Ich zum Wir. Anmerkungen zum politischen Charakter sozialistischer Utopien. In express 10/2023.

[3] Harald Rein (2023): Schlechte Stimmung für Sozialismus? Replik auf Thomas Gehrig in express 10/2023. In express 11/2023.a